Die Rückkehr der Göttin

In meinem Büchlein über Aufstellungen von Märchen und Mythen* widme ich das zwölfte und letzte Kapitel dem Inanna-Mythos: Die sumerische Göttin steigt in das Reich des Todes hinab, dorthin, wo ihre dunkle Schwester Ereškigal herrscht, und kehrt nach gewisser Zeit wieder in unsere Welt zurück. Ich will hier nicht die vollständige Aufstellung und die mythologische Bedeutung von Inannas Reise schildern, sondern lediglich den Unterschied zwischen dem Ende des alten Mythos und dem letzten Teil der Aufstellung aufzeigen. Zwischen den beiden Versionen liegen fünftausend Jahre.

Im Mythos kehrt die Göttin in Begleitung zweier Dämonen aus der Unterwelt zurück, die die Aufgabe haben, jemanden als Ersatz für die entkommende Seele in das Totenreich zurückzubringen. Die Gesetze der Unterwelt sind klar. Niemand – auch keine Göttin – darf entweichen, ohne dass jemand anderes den Platz einzunehmen hat. Nach ihrer Rückkehr stellt Inanna fest, dass Dumuzi, ein „einfacher Schäfer“, den sie zum Gatten gewählt hatte, während ihrer Abwesenheit ihren Thron bestiegen hat, und – statt um sie zu trauern – seine eigene Herrlichkeit proklamierte. So hält sie die Dämonen nicht zurück, ihn in den Tod zu reißen.

Das ist die Beschreibung der Situation vor fünftausend Jahren: Die Göttin war (noch) stark und die Männer waren (noch) furchtsam. Doch bereits um die Zeit der Niederschrift dieses Mythos änderten sich die Verhältnisse allmählich. Im beginnenden Patriarchat besetzten die Priester Inannas Thron mit dem einen, all seine Feinde vernichtenden Gottvater. Die einst so mächtige Göttin erklärten sie zur keuschen Jungfrau, die ihre Weiblichkeit hinter einem Schleier, einer Burka oder einem Tschador zu verstecken hatte. Ihr Platz war von nun an zu Füßen des selbsterklärten Propheten.

Eigentlich sollte es uns heute nicht überraschen, wenn sie zornig wäre. Sie – das heißt das weibliche Prinzip schlechthin; die Natur, die Witterung, die Erde, die Überschwemmungen, die Tsunamis. Und natürlich auch die Psyche, die uns, trotz der unbestreitbarer Erfolge der Menschheit bezüglich Wachstum, Wissenschaft und Waffenentwicklung (allesamt männliche Errungenschaften) mit Depressionen und Ängsten plagt.

Doch das Ende der Aufstellung war alles andere als gewalttätig oder rachsüchtig. Inanna kehrte zu Dumuzi zurück, der sie herzlich begrüßte:
„Du hast mir gefehlt“, sagte er (d.h. sein Stellvertreter), „hier ist dein Thron.“
„Willst du nicht mal wissen, wo ich war?“ neckte sie ihn.
„Weißt du, ich bin nur ein einfacher Schäfer und außerdem ein Mann, und so kann ich das, was du machst, nicht immer verstehen. Aber es freut mich sehr, dass du zurück bist. Es ist eine feine Sache, eine Göttin zur Frau zu haben. Und so bin ich nun durch deine Herrlichkeit erfüllt.“

So gesehen in einer Aufstellung. Und seitdem behaupte ich, dass die Göttin zurückkehrt. Sanft, aber bestimmt. Denn ihre wachsende Präsenz macht sich überall (oder fast überall) bemerkbar, speziell in den bislang noch männlichen Domänen. So zum Beispiel in der Wirtschaft – in der Unmöglichkeit, die Dinge nur durch Ratio und „männliche“ Logik zu bewältigen. Ich treffe Wirtschaftsbosse, Unternehmer und leitende Manager, die vielleicht anfangs noch mit ein wenig Scham, doch bald schon eifrig die „mythologische Wahrnehmung“ lernen wollen, samt Intuition und dem Vertrauen in „Flow“. Meine Kollegin Barbora lehrt Frauen in leitenden Positionen, wie sie das Menstruationszyklus mit den Wirtschaft- und Arbeitsanforderungen vereinbaren können. Auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz brodelt es. Viele Männer beginnen nicht nur, ihren Kolleginnen zuzuhören und ihnen von Fall zu Fall recht zu geben, sondern einen Ausflug zu ihrer eigenen, der „inneren Frau“ zu unternehmen. Sie müssen es tun – denn sonst verpassen sie den Anschluss an die „emotionale Intelligenz“, die sich in den Unternehmen als eine immer wichtigere Kraft erweist, die (das Unternehmen) stabilisiert und durch eventuelle Krisen führen kann.


Neulich hörte ich einen Mann sagen: „Die Frauen sollten regieren. Die Korruption und die Kriege würden verschwinden.“ Nun, das ist zwar ziemlich unsicher, was sich jedoch in jeder Aufstellung zu diesem Thema zeigt, ist die Verschiebung der Machtverhältnisse. Das geschieht nicht unbedingt in der oben erwähnten Richtung – nämlich dass die Frauen wieder „regieren“ sollten. Nein, die Inanna will lediglich geachtet werden. Sie darf nicht ausgeschlossen, nicht unterschwellig als „zu weich, zu emotional und zu veränderlich für die harte Welt des Business“ betrachtet werden, wie es neulich ein gestresster und ratloser Manager ausdrückte. Wenn das gemacht wird, so droht uns Männern ein Burnout, ein Herzinfarkt (die Schwäche des Herz-Chakras) oder sogar ein Fukushima-Desaster, bei der die männliche Hoch-Temperatur-Groß-Technologie durch eine Tsunamiwelle (Inanna!) weggespült würde.

In einer globalen Aufstellung**, die ich vor einiger Zeit in meiner Ausbildungsklasse zum Thema „Männer, Frauen und die Macht“ geführt habe, zeichnete sich folgendes Bild ab:
Am Anfang stellte sich „die Macht“ eher an die Seite des Mannes. Doch da er sich unklar über seine Ziele war und sich „wie im Nebel“ fühlte, wanderte „die Macht“ langsam zur Frauenseite hinüber. Die Bewegung beschleunigte sich noch, nachdem sich „die Kraft“, die der Mann sich zur Hilfe in die Aufstellung gerufen hatte, hinter die Frau platzierte, zusammen mit „der Erde“.

Erstaunlicherweise kam der Mann gerade dadurch aus seinem Nebel heraus und konnte wieder präsent, klar und strahlend da stehen. Daraufhin setzte sich die Macht zu den Füßen der Frau hin, zum Zeichen, dass sie nun nicht tätig werden muss. „Ich bin NUR ein Mann“, war der Schlüsselsatz des Mannes sowohl in dieser wie auch in der Inanna-Aufstellung – ein Satz, der nicht aus Schuld- oder gar Minderwertigkeitsgefühl gesprochen wurde, sondern voller Klarheit und Partnerschaft. Dieser Satz war es auch, der eine sonderbare Harmonie zwischen ihm und der Frau herstellte. Im selben Augenblick, in dem der Mann den Satz in „Ich bin ein Mann!“ umwandelte, stand die Macht auf und freute sich, denn der Konflikt und der Kampf waren wieder da.

Konflikte und Kämpfe sind zweifelsohne von Zeit zu Zeit notwendig. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, behauptet Heraklit. Bert Hellinger, der „Vater aller Aufstellungen“ sagt: „Die Frau folgt dem Mann, und der Mann dient der Frau.“ Der zweite Halbsatz wurde oft weggelassen: allzu dominante Männer wollen nichts von einem wahren Dienen für die Göttin wissen, und allzu emanzipierte Frauen kritisieren Hellingers Worte als Bestätigung des alten, patriarchalischen Herrschaftsanspruches. Eigentlich schade um diese Missverständnisse.

Denn wenn die Männer ihre „dienende Rolle“ als eine Aufgabe (die jeder Mann braucht) begreifen würden, durch ihre Kraft und Präsenz, durch ihre rationelle Intelligenz und Wissenschaft das Leben zu verteidigen, könnte die Rückkehr der Göttin auf Ihren Thron, der natürlich Seite an Seite mit Seinem Thron steht, ohne Katastrophen und Tsunamis vor sich gehen. In meinen Workshops und Seminaren behaupte ich, dass die Aufstellungen nicht eine „bessere“ Wahrheit zeigen, sondern uns einen neuen Blick auf das ermöglichen, was wir lange Zeit nur einseitig wahrgenommen haben. Die Inanna-Aufstellung offenbarte uns sowohl die Rückkehr der Göttin wie auch die Schönheit und die Tiefe des „einfachen“ Hirten Dumuzi und seine große Liebe, die ihn mit ihr verbindet.
„Ich bin froh, dass du zurückkehrst“, sagt der Mann zur Frau, die immer auch eine Göttin ist, „und ich werde lieber keine Fragen stellen. Hier ist dein Thron, meine Liebe.“
Und diese von Herzen kommende Einfachheit rettet ihm, im dritten Jahrtausend nach Christus und im sechsten nach Inanna, sein Leben.

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* Jan Bílý: „Co se stalo s Popelkou po svatbě“(Was passierte mit Aschenputtel nach der Hochzeit?), Synergie Publishing SE, Prag, 2014, nur auf Tschechisch
* Eine globale Aufstellung ist eine solche ohne individuellen Auftrag des Klienten. Sie zeigt gewissermaßen das Ergebnis der „gesammelten Weisheit“ des ganzen Kreises der Anwesenden. Mehr: www.janbily.de

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