Die drei Arten des Bewusstseins: Die Stammesseele

Den ersten Teil dieses Textes finden Sie hier.

Das Stammesseele-Bewusstsein
Der erste Teil handelte vom Bewusstsein, welches mit der sogenannten Familienseele zusammenhängt, also von der Kindheit. Wie ein junger Baum wächst auch der junge Mensch in die Höhe. Selbstorientiert und ich-betont versucht er, die anderen hinter sich zu lassen. Und doch ist er abhängig. Um bei dem Bild zu bleiben: er ist auf die Nährstoffe im Boden (d.h. in der Familie) angewiesen und zwar dort, wo er aufwächst. Da wir aber keine verwurzelten Bäume sondern beweglich sind, streben wir – um die Zeit der Pubertät – danach, uns aus dieser Abhängigkeit zu lösen. Wir ziehen in die „weite Welt“, um uns eine andere Gruppe Verbündeter zu suchen. Wir entwickeln das Stammesseelen-Bewusstsein.

Von dieser Phase erzählen viele Märchen: Der Held macht sich – üblicherweise noch mit einer schwierigen Aufgabe ausgestattet – auf die Reise, übersteht dabei diverse Gefahren, sucht und findet magische Helfer, bis er am Ende (da er sich bewährt hat) die auf ihn wartete Prinzessin bekommt. Auch hier ist mit dem erforderlichen „Durchsetzungsvermögen“ eine gehörige Portion Egoismus vonnöten. Doch das Ziel dieser Phase ist nicht das „Ich“, sondern vielmehr das „Wir“. In der Stammesseele sucht sich unser „zweites“ Bewusstsein vor allem Verbündete, Alliierte, Gleichgesinnte, Kollegen oder Partner.

Die Kraft, welche die Stämme zusammenhält (egal ob als Fußballfans, Firmenangehörige, Parteigenossen, Glaubensbrüder oder auch Ehepartner), ist der Kraft der Familienseele nicht unähnlich. Und doch unterscheiden sich beide Seelen voneinander in einem wichtigen Punkt: Unsere (Ursprungs-) Familie können wir nicht wechseln. Unseren Stamm schon. Wir können zu einem anderen Glauben konvertieren, den Fußballverein wechseln, wir können auch unsere einmal gefundene „Prinzessin“ für eine praktische Frau aus dem Nachbardorf verlassen. Das bedeutet, dass die Stammesseele in ihrem Bestand erheblich gefährdeter ist als die Familienseele.

Dieser Gefahr begegnet das Stammesseelen-Bewusstsein mittels eines „wir-gegen-sie“-Gefühls. Die Angehörigen einer Gruppe (eines Stammes) stattet das entsprechende Bewusstsein mit einer schier endlosen Zahl an Argumenten dafür aus, weshalb sie besser, gerechter, wahrhaftiger oder einfach „richtiger“ sind als diejenigen, die nicht dazu gehören (wollen). Fast immer erzeugt diese Art des Bewusstseins eine Ideologie zur Unterstützung der eigenen Gruppe; dabei tarnt sich diese Gruppenideologie oft als „das Offensichtliche“, das keine weiteren Argumente braucht. „Das ist doch klar, wie kannst du es nicht verstehen?!“ hören wir dann. Logik, Wissenschaft und „sonnenklare Beweise“ werden angeführt, und die Betroffenen merken selbst nicht, dass sie lediglich ihre Stammesseele verteidigen. Die schönsten Beispiele für diese Art der Stammesseele finden sich derzeit in etlichen, sich selbst bestätigenden Internet-Gruppen.


Ein weiteres Ziel des Stammes-Bewusstseins liegt in der Verwirklichung einer gemeinsamen Aufgabe; daher sprechen wir hier von einer Zweckorientierung. Es ist ein wenig wie beim Militär: die Interessen wie auch die Rechte des Einzelnen müssen zurücktreten, damit die Gruppe prosperiert. Dabei ist jedoch genau zu unterscheiden, welcher Gruppe der Mensch dabei konkret dient. So kann ein korrupter Manager, indem er die eigene Firma oder den Staat schädigt, zwar scheinbar entgegen der Gruppenseele handeln, doch bei näherer Betrachtung wird klar, dass er tatsächlich zugunsten eines anderen Stammes tätig ist – zum Beispiel für seine eigene Familie oder für eine Gruppe Gleichgesinnter, mit welchen ihn eine Art krimineller Energie verbindet.

Ein drittes Instrument, mit dem die Stammesseele ihre Angehörigen zusammen hält, ist der Vorwurf des Verrates: Ein Abtrünniger ist verhasster als ein „ehrlicher Gegner“. Auch dies ist lediglich ein Mechanismus des Stammes-Bewusstseins, um die Gruppe vor Zerfall zu schützen.

Nun wird auch verständlich, weshalb viele Eltern bei der Trennung geradezu einen Krieg um ihre Kinder veranstalten und dabei deren seelisches Wohl völlig außer Acht lassen. Trennt sich ein Paar, das durch die Absicht einer Familiengründung verbunden war, so entstehen aus ursprünglich einer Stammesseele (eben dieser Familie) nun zwei fast immer verfeindete Stammesseelen – zu denen jeweils einer der Partner und seine Verbündeten gehören: seine Freunde, Eltern, Rechtsanwälte usw. Die beiden Partner bezichtigen sich gegenseitig des Verrats, und die nun entstandenen neuen Stammesseelen statten jeweils beide Seiten mit genügend Argumenten dafür aus, dass die Wahrheit bei ihnen liege.

Demzufolge versucht jeder der Eltern, die Kinder auf die „richtige“ Seite (nämlich die ihre) zu ziehen. Das freilich können die Kinder nicht verstehen, denn für sie gehören beide Eltern zu der (nicht trennbaren) Familienseele. Auch wenn es durch diese Konflikte produzierenden Situationen vielleicht so aussehen mag, ist das Stammes-Bewusstsein nichts Negatives. Diese Phase der Bewusstseinsentwicklung ist unabdingbar - auch wenn im Namen der jeweiligen Stammesseelen oft Kriege geführt oder die Unterdrückung von Minderheiten, Genozide, Pogrome gerechtfertigt wurden. Ohne unsere Gruppenzugehörigkeit wären wir nicht, was wir sind. Gerade diese Bewusstseinsart ermöglicht uns einen rationalen, praktischen Zugang herzustellen zum Leben und zu der Wirklichkeit, in der wir uns nun einmal befinden. Gruppen und „Stämme“ zu verachten und sich so vermeintlich auf eine „höhere“ Stufe zu stellen, geht meist mit einem Defizit des Wir-Gefühls einher – und damit einem Mangel, der uns früher oder später einholt. Oder, anders ausgedrückt, das „ich-gehöre-keiner-Gruppe-an“ deutet oft auf eine zwar subtile und sich gut tarnende, dafür aber umso fanatischere und dauerhaftere Stammesseele hin: die der „Nicht-Zugehörenden“.

Erst, nachdem wir diese Stufe des Bewusstseins voll durchlebt und angenommen haben, kann uns der Sprung hin zu dem dritten Bewusstsein gelingen – zum Bewusstsein der Essentiellen Seele. Hierzu mehr in der dritten und letzten Folge dieser Artikelreihe.

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Danke für Ihren Kommentar. Da ich ihn "bewilligen" muss, kann die Veröffentlichung einige Tage dauern. Jan Bily

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