Die korrekte neue Welt


Als ich mit zweiundzwanzig aus der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik floh, landete ich zunächst in der Schweiz. Dort konnte ich für einige Tage bei meinem ehemaligen Schulfreund Franz und seinem Vater bleiben. Was das Emigrieren betrifft, war ich damals noch blutiger Anfänger (inzwischen habe ich mehrere solcher Aktionen hinter mir), und so konnte ich mich zunächst nicht entscheiden, ob ich bei den Eidgenossen bleiben oder aber weiter in die Welt ziehen sollte. In Losdorf, einem kleinen Dorf bei Aarau, wo ich Obdach gefunden hatte, regnete es seit Tagen. Neben dem Wetter trübte auch die Nähe zum AKW Gösgen, dessen rauchende Kühltürme den Horizont zierten („ischt total harmlos, nüüt als Dampf“), meine Stimmung. Die Entscheidung fiel jedoch erst, nachdem ich einen Nachbarn durchs Fenster beobachten konnte, wie er im Regen mit einer Papierschere den Rand seines Rasens im Vorgarten zurechtschnitt. Mir ging auf, dass die Korrektheit der Schweizer doch zu viel war für meine anarchoide Seele. Nach einigen Episoden landete ich also in Deutschland, wo 1976 noch einiges von der Flower-Power-Stimmung zu spüren war. Die Polizei war mit der Jagd auf die RAF-Terroristen beschäftigt, während das gemeine Volk seelenruhig bei Rot über die Straße laufen, ohne Helm Fahrradfahren und manchmal auch Hasch rauchen konnte.

Nun mache ich einen Sprung vorwärts von vierzig Jahren. Ich lebe seit 2000 in Prag, der goldenen Stadt, wo ich meinen Mitmenschen geduldig und meistens auch vergeblich erkläre, warum und wozu die EU gut sei. Ich verzweifle an hiesigem greisen Präsidenten, der die Nation spaltet, bin wütend, dass ein vermutlich krimineller Oligarch demnächst Premierminister werden wird und schäme mich wegen den 13 (in Worten dreizehn) aufgenommenen Flüchtlingen aus Syrien (die zudem inzwischen alle weiter nach Deutschland abgewandert sind). Doch ich verstehe es, wenn einige meiner Freunde sagen: „Die Deutschen sind so korrekt, dass sie daran zu Grunde gehen werden.“ Einige wenige meinen dies liebevoll, die meisten sind besorgt – denn Tschechien ist, auch wenn es hier kaum jemand wahrhaben will, der siebzehnte Bundesstaat. Und ein ziemlich anarchistischer zudem.

Gäbe es morgen einen Volksentscheid darüber, ob die tschechische Republik unter der Bedingung, die (vertragsgemäße) Quote von 1.100 Flüchtlingen aufzunehmen, in der EU bleiben oder lieber aus dieser austreten solle, würden schätzungsweise etwa 60% der Tschechen für einen Austritt votieren. Das scheint zunächst völlig irrational, denn von dieser Asylantenmenge droht ja keine reale Gefahr, dafür aber wohl durch die Strafe für den Vertragsbruch. Um dies zu verstehen, müsste man die jeweilige „nationalen Psyche“ betrachten und die Unterschiede zu verstehen versuchen statt sie zu ignorieren, wie es zurzeit geschieht. Neben dem großen und korrekten Deutschland-Bruder ist der kleinere Spross Tschechien einfach dazu verdammt, die Neinsager-Rolle spielen zu müssen. Leider ohne sich dessen voll bewusst zu werden und – womöglich – darüber zu lachen. Und wie in einer Familie, auch in diesem Fall scheint es mir höchstens kontraproduktiv, den „kleinen Fratz“ zu maßregeln. Das „nein“ tönt dadurch nur trotziger.

Ich schreibe diesen Artikel nicht (oder nicht nur) deshalb, um die Tschechen in die Position der Rebellen zu stellen. Meine Sorge gilt auch der Verschweizerisierung der Deutschen, zumindest derer, die ich kenne und als meine Freunde betrachte. Wo die Rebellion auf der tschechischen Seite blüht (vorwiegend gegenüber der jeweils herrschenden offiziellen Doktrin – früher die der Russen, heute von der EU kommend), steht auf der deutschen Seite die Korrektheit und ... ich würde es die Vertragstreue nennen. Man geht einfach nicht bei Rot über die Straße, selbst wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Und man ist bereit, jeden, der die Bedingungen für die Asylaufnahme erfüllt, ins Land zu nehmen. Das ist schön und edel – doch was passiert, wenn dies in der immer labileren Welt nun auf Dutzende Millionen zutrifft?

Es ist etliche Jahre her, dass ich mit meiner Freundin in einer typisch nürnbergischen Kneipe saß – nennen wir sie „Zum Faustus“. Uns gegenüber tranken zwei Doktoren, und ich fühlte mich wie Mephisto . Zunächst schimpften wir ein wenig über die jeweils „unsere“ Regierung und „unsere“ Verhältnisse, lobten das „unsere“ Bier. Doch dann fiel mir auf, dass meine Gegenüber einfach zu korrekt waren, um eine Affäre mit Gretchen zu wagen. Womöglich war sie noch nicht volljährig. Oder bereits verheiratet. Wer weiß… Da beschlich mich ein teuflischer Plan: ich werde die tschechische Anarchie nach Deutschland exportieren und im Gegenzug die deutsche Korrektheit nach Tschechien bringen. Und um Missverständnissen vorzubeugen: unter der hiesigen Anarchie verstehe ich nicht Krawalle wie etwa in Hamburg, sondern vielmehr den schwejkschen Ungehorsam. Oder die kreative und chaotische Lebendigkeit des (leider heutzutage höchst bedrohten) Urwalds.

Denn – falls es regnet, sollte man zu Hause bleiben, sich einen Film aus dem Internet herunterladen, doch keinesfalls die Ränder des Rasens trimmen. Und basta.

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